Schönheit wecken
Vor Jahren hatte ich ein Erlebnis, das mich tief beeindruckte und für mich ein vollkommener Beweis dafür ist, wie wichtig die Reinigung als soziale und pädagogische Grundlage sein kann. Diese Erfahrung zeigte mir auch, dass wir die Bedeutung der liebevollen Pflege eines Raumes nie unterschätzen dürfen, denn dadurch schaffen wir tatsächlich Platz für etwas Neues. Das sind kostbare Momente, in denen wir gestaltend arbeiten und zur Erneuerung und zum Frieden beitragen können.
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So wurde ich einmal von einer Erziehungsanstalt für jugendliche Kriminelle gebeten, ein ganzes Wohnhaus von Grund auf zu reinigen. Ein Tag der offenen Tür stand bevor. Ich war empört über den vernachlässigten Zustand, den ich vorfand, und wollte wissen, wer gewöhnlich für die Reinigung der Räumlichkeiten zuständig sei. Die Jugendlichen, hieß es. Ich fragte weiter: Wer bringt denn den Jugendlichen bei, wie sie zu putzen haben? Die Antwort lautete: Wir Erzieher. Darauf sagte ich: Gibt es dann auch Bereiche, die von den Erziehern selbst geputzt werden? – Als ich mir diese Räumlichkeiten angeschaut hatte, musste ich den Erziehern sagen, dass sie nichts vom Putzen verstünden. Was soll das eigentlich alles?, wollte einer der Erzieher daraufhin von mir wissen – Wollen Sie nun hier putzen oder nicht? – Darauf antwortete ich, dass ich gerne bereit sei hier zu putzen, jedoch nicht mit den Angestellten meiner Firma. Ich würde meine Mittel, Geräte und mein ganzes Know-how zu Verfügung stellen, um mit den Jugendlichen selbst und den Erziehern das Haus zu putzen.
Diesen Vorschlag musste der Erzieher natürlich erst vors Kollegium bringen, denn so etwas hatte es hier noch nicht gegeben. Nebenbei erwähnte ich noch, es würde 3000 CHF kosten, wenn meine Firma putzen würde und 600 CHF, wenn ich alleine käme. Das wurde akzeptiert! Aber dann hatte ich schon die nächste Bedingung zur Hand: Da ich weder Erzieherin noch Sozialpädagogin sei, wäre der Zugang zu den kriminellen Jugendlichen für mich nur über deren Schutzengel möglich. Ich wollte sie also alle vorher mit ihrem Namen kennenlernen. Daraufhin wurde ein gemeinsames Frühstück organisiert – und dann war es soweit. Wir fingen in einem Haus an, wo zehn Jugendliche wohnten, wovon jeweils fünf an einem Wochenende freien Ausgang hatten. Somit wurde die Arbeit auf zwei Wochenenden verteilt. Das Haus hatte drei Stockwerke, und das ganze Treppenhaus war mit aggressivsten Graffitis bemalt, furchtbare Bilder in ganz dunklen und ganz grellen Farben. In den Zimmern selbst sollten nur die Fenster, Türen und Böden gereinigt werden. Doch als die Jugendlichen einmal begonnen hatten, wollten sie gleich alles machen. Sie fingen an, die Poster und Kleber zu entfernen. Einer nahm sogar sein ganzes Bettgestell auseinander und fand dabei viele verlorene Kleidungsstücke wieder. Ein anderer wollte wissen, wie er seine Stereoanlage biologisch reinigen könne … Zum Putzen brauchte er auch Musik, und was für Musik! Es tönte wie eine Mischung aus Schnellzug und Maschinengewehr.
Ich fragte, wieso er gerade diese Musik gewählt habe. Er antwortete: Es gibt mir Energie. Ich entgegnete: Aber das sehe ich Dir nicht an. Daraufhin wollte er von mir wissen: Was hören Sie denn für Musik? Meine Antwort war: Hauptsächlich klassische Musik, ich war halt in den sechziger Jahren in eurem Alter. Da ertönte plötzlich Cat Stevens‘ Song Morning has broken aus den Lautsprechern. Das war eine wahre Symphonie im Vergleich zu dem vorherigen Lärm. Ich konnte den jungen Mann sogar davon überzeugen, dass es sich einfacher zum Rhythmus von Morning has broken putzen lässt als zu dem tu-dum, tu-dum, tu-dumseiner Musik. – Die Stimmung war wunderbar, und wir schafften sehr viel in dieser Zeit. Als ich am nächsten Wochenende für die zweite Hälfte zurückkam, erwartete mich eine wunderbare Überraschung. Die Jugendlichen, die mit mir geputzt hatten, hatten am darauffolgenden Montag um Erlaubnis gebeten, von ihrem eigenen Geld Farbe einzukaufen zu dürfen. In der freien Zeit strichen sie das ganze Treppenhaus von oben bis unten weiß. Aber dabei blieb es nicht: Sie bemalten die ganze Fläche mit kindlichen Bildern. Ein Häuschen mit rosaroten Vorhängen an den Fenstern, einer grünen Tür und rauchendem Schornstein, Obstbäume mit reifen Äpfeln und Kirschen, eine strahlende Sonne, einen Regenbogen, Schmetterlinge, Schneckenhäuser, Tulpen und Osterglocken – und Kinder, die auf einem Hügel Drachen steigen ließen.
Erst diese Kulturerfahrung des gemeinsamen Reinigens rief in den Jugendlichen etwas wach, von dem sie gar nichts wussten, es ja nicht einmal ahnten. Diese (scheinbar) abgehärteten, sozial schwerstgeschädigten jungen Menschen empfanden das Bedürfnis, sich an der Wand ein Stück heile Welt zu erschaffen – die entstandene (weiße) Leere neu zu gestalten.