Frühjahrsputz, überbewertet


11. April 2024, 13:30 Uhr


Kaum werden die Tage länger, wird überall gewischt und geschrubbt. Warum
eigentlich? Es gibt auch Experten, die sagen: Darf man ruhig schwänzen.
Von Violetta Simon


Seit die Frühlingssonne wieder durchs Küchenfenster fällt und den Staub in der Luft sichtbar
macht, schüttelt Deutschland Teppiche aus und feudelt Böden. Vor den Wertstoffhöfen bilden
sich seit Wochen Schlangen, Kommunen verteilen Müllsäcke und Greifzangen an ihre Bürger.
In sozialen Medien überbieten sich selbst ernannte Cleanfluencerinnen bei der "Spring Cleaning
Challenge" und posten Checklisten zum Ausdrucken. Lynsey Crombie, die "Queen of Clean",
kurvt staubwedelnd um ihre Designermöbel, Becky Rapinchuk alias "Clean Mama" zelebriert die
Wiedergeburt ihrer Küche, die dank ihrer cleveren Putzhacks jetzt nicht nur sparkling, glän-
zend, sondern deep clean, tiefenrein, erstrahlt.
Selbst der Bundespräsident huldigt dem Großreinemachen im Frühjahr mit einem geschäftigen
Video aus dem Schlosspark Bellevue, in dem Grünflächen mit der Fräse und Steinplatten mit
dem Hochdruckreiniger bearbeitet werden.
Gelegentlich auszumisten und sauberzumachen, ist ja durchaus sinnvoll. Wissenschaftliche Stu-
dien belegen sogar, dass Hausarbeit sich positiv auf die mentale Gesundheit auswirkt. Aber
wieso ausgerechnet dann, wenn es endlich wieder warm genug ist, um in der Sonne zu sitzen?

Ordnung im Haus schafft Ordnung im Kopf
"Im eigenen Bereich für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen, kann Ruhe und Klarheit im Kopf,
aber auch Sicherheit und Geborgenheit erzeugen", glaubt die Berliner Diplompsychologin Ulrike
Scheuermann. Dieser therapeutische Effekt sei durchaus relevant für eine Gesellschaft, die sich
konfrontiert sieht mit Krisen und Kriegen: "Man hat etwas Sichtbares geschafft, das steigert die
Selbstwirksamkeit und damit die Resilienz."

Die britische Cleanfluencerin Ann Russell formulierte das in einem Interview so: "Du kannst
nicht beeinflussen, was in der Welt passiert, keine Kriege in anderen Ländern verhindern. Aber
du kannst deine Socken schön zusammenlegen, in eine Schublade räumen und zufrieden sein."
So weit, so gut. Nur: warum einmal im Jahr - und dann alle auf einmal? Studien zufolge veraus-
gabt sich mindestens die Hälfte der Deutschen beim jährlichen Frühjahrsputz. Dabei sind die
Zeiten, in denen eine saisonale Grundreinigung noch sinnvoll war, lange vorbei: Bis der Gasherd
im Laufe des 19. Jahrhunderts den Kohleofen ersetzte, heizte und kochte man mit offenem
Feuer. Holzböden und Möbel mussten nach der Heizperiode besonders gründlich gereinigt wer-
den, um sie vom Ruß zu befreien. Auch schwere Decken und Teppiche konnte man dann endlich
waschen, im Winter wären sie nicht trocken geworden.


Solche Einschränkungen spielen heute keine Rolle mehr. Die Kriterien, wann und wie der Haus-
putz erledigt wird, könnten sich nach einer modernen Lebensrealität richten - schon wegen der
ständig wachsenden Zahl an pflegeintensiven Hochglanz-Oberflächen, die permanent unsere
Aufmerksamkeit einfordern. Dennoch halten viele am Frühjahrsputz fest. Zum einen, weil der
Anstieg von Wärme und Helligkeit bei vielen für Aufbruchstimmung sorgt. Zum anderen ist der
Kreislauf offenbar schwer zu durchbrechen: "Es wirkt ansteckend, wenn man die Nachbarn
dabei beobachtet und in den sozialen Medien ständig darauf gestoßen wird", sagt
Psychologin Scheuermann.


Hinzu kommt das Bedürfnis, sich die Kontrolle über das eigene Leben zurückzuholen, gerade in
den Wochen nach dem Jahreswechsel. "Etwa, weil man die Vorsätze zum neuen Jahr mal wieder
nicht durchgehalten hat", sagt Scheuermann. Einmal ordentlich durchs Haus wischen, schon
fühlt man sich wie ein neuer Mensch. Das sei insbesondere beim Ausmisten der Fall, bei dem
man sich selbst belohne - "durch befreiten Raum, in dem etwas Neues entsteht".


Menschen auf der ganzen Welt praktizieren kollektive Reinigungsrituale im Frühling
Ballast abwerfen, um Platz zu schaffen - für die Reinigungsexpertin Linda Thomas, die Vorträge
über die spirituelle Kraft des Putzens hält, ist das nachvollziehbar: "Kulturelle Bräuche wie
Ostern, Fest der Auferstehung, ermutigen uns, etwas Neues in unser Leben zu lassen." In ihrer
Familie wurde deshalb immer vor Weihnachten und Ostern das Spielzeug aussortiert, bevor es
Geschenke gab.


Tatsächlich praktizieren Menschen auf der ganzen Welt kollektive Reinigungsrituale im Früh-
ling. Nach jüdischem Brauch ist es üblich, vor dem Pessachfest das Haus gründlich zu säubern,
um alle Spuren von gesäuerten Speisen zu entfernen - ein symbolischer Akt für den Auszug aus
Ägypten. Beim Hausputz vor dem chinesischen Neujahrsfest werden böse Geister vertrieben und
positive Energien eingelassen.
Den Hype um den Frühjahrsputz hält Thomas dennoch für übertrieben. "Da fehlt mir der
gesunde Menschenverstand", sagt die Autorin, die mehrere Bücher übers Putzen geschrieben
hat. "Die Menschen sollten lieber auf ihre Selbstwahrnehmung vertrauen und im eigenen Rhyth-
mus bleiben." So vermeide man auch, in einer Selbstoptimierungsspirale zu enden - mit rollie-
renden Putzplänen, Checklisten und optimierten Arbeitsabläufen, wie sie von vielen Cleanfluen-
cerinnen vorgegeben werden.


Die Spezialistin rät dazu, Handgriffe im Zusammenhang mit einer bestimmten Tätigkeit und
nicht mit einem Ereignis zu erledigen. "Zum Beispiel wische ich die Küchenfronten zwischen-
durch beim Geschirrspülen ab, nicht erst nächste Woche, weil dann Ostern oder eine bestimmte
Zone dran ist. Und wenn nach einer Einladung der Geschirrschrank halb leer ist, wird er eben
ausgewischt, bevor man alles wieder einräumt."
"Mach es gleich weg, dann ist es erledigt."
Den Frühjahrsputz nutzt Thomas nur für Aktionen, bei denen schwer erreichbare Gegenstände
wie Deckenlampen gereinigt und Möbel verrückt werden müssen. "Aber auch nicht alles an
einem Tag, sondern verteilt auf drei Wochenenden - und mit genügend Pausen, sonst verliert
man die Lust."
Auch Psychologin Scheuermann warnt davor, sich der Idealvorstellung von einem perfekten
Leben mit einer makellos sauberen Wohnung zu unterwerfen. Man sollte sich immer wieder fra-
gen: "Tue ich das jetzt für mich, oder erfülle ich damit nur die Vorstellung von der Person, die ich
gerne wäre?"
Einmal im Jahr alles vom Keller bis zum Dach durchzuputzen, ist nicht nur unnötig stressig. Es
verhindert auch, im Alltag eine Routine zu entwickeln. "Entscheidungen immer wieder neu zu
treffen, ist anstrengend", sagt Scheuermann. "Durch Routine werden Dinge wie Zähneputzen
automatisch erledigt - das entlastet die Psyche." Die Psychologin hält sich deshalb beim Sauber-
machen an den Rat ihrer Oma: "Mach es gleich weg, dann ist es erledigt."



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Über

Linda Thomas

Linda Thomas entwickelte eine Arbeitsphilosophie, die das Putzen in Pflegen verwandeln kann und setzte einen deutlichen Impuls für eine Umwandlung im Denken und Handeln, sowie für ein erweitertes Selbstverständnis der Haushaltungstätigkeit.

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