Putzen und Pflegen
Mit der Zeit machte ich eine wichtige Entdeckung: Es besteht ein großer Unterschied zwischen Putzen und Pflegen. Putzen wir, so nehmen wir den Schmutz weg, und das Resultat dieses Tuns hält sich oft nicht mal fünf Minuten: Die Flure sind noch nicht fertig geputzt, und schon läuft jemand über die frisch geputzten Böden…
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Kaum glänzt daheim der Boden wieder, kommt eines der Kinder aus dem Sandkasten, um einen wichtigen Fund zu zeigen. Für viele Menschen ist das frustrierend. Und so wird ihnen das Putzen zu einem notwendigen Übel.Wenn wir aber versuchen, mit unserem vollen Bewusstsein und mit Liebe diese Arbeit zu verrichten, wenn wir mit Hingabe jedes Eckchen mit unseren Fingerspitzen durchdringen, dann verwandeln wir das Putzen ins Pflegen. Wir berühren nicht mehr nur das Physische, sondern die ganze Atmosphäre ändert sich. Es wird heller im Raum. Und das Wunderbare daran ist: Das Resultat des Pflegens hält sich wesentlich länger als das Ergebnis des bloßen Schmutz-Wegnehmens.Als einmal eine ältere Dame von meiner Arbeitsweise hörte, bat sie mich, in ihrer Wohnung einen Frühjahrsputz durchzuführen. Sie hätte gehört, dass es länger sauber bleibe, wenn die Putzarbeit mir anvertraut würde. Ich gab mir alle Mühe, ihre Wohnung so gut und so gründlich wie möglich zu pflegen. Zehn Tage später rief sie mich an und sagte: Es stimmt also doch! Wissen Sie, Frau Thomas, ich habe ja bereits eine Hilfe, die wöchentlich kommt, um mir die Wohnung zu putzen, aber nach kaum drei Tagen, liegt schon wieder Staub auf den Dingen. Ich habe jetzt jeden Tag kontrolliert, und heute konnte ich den Staub zum ersten Mal wieder sehen! Erstaunlich war auch, dass, sobald ich meine Arbeit zu lieben begann, bemerkten auch die Kunden eine Änderung.
Ein Architekt, dem ich nur einmal bei der Vertragsunterzeichnung begegnet war, tauchte unerwartet an einem Donnerstagabend auf. Er wolle mich einfach einmal begrüßen und mich fragen, wie es mir gehe und sich für die schöne Arbeit bedanken, die ich in seinen Räumen leisten würde.Allerdings wurde mir mein neuer Ruf auch zu einem gewissen Nachteil. So kam es immer wieder vor, dass ich vor lauter neuen Aufträgen das Putzen an Kollegen oder Kolleginnen weiterreichen musste. Dabei kam es zu Beschwerden, weil einige Kunden meinten, es würde nicht mehr so sauber geputzt! Das stimmte jedoch nicht (oder nur manchmal), denn sicher ist mein Putzergebnis in den meisten Fällen nicht besser als das meiner Kollegen. Was aber die Menschen wohl unbewusst bemerkt hatten, war, dass meine Art und Weise zu arbeiten, mittlerweile ein ganz tiefgehender Teil meines Lebens geworden war.Denn beim Pflegen eines Raumes nehmen wir nicht nur den Schmutz weg, sondern schaffen auch Raum für etwas Neues. Aber was ist dieses Neue? Womit wird der entstandene Raum erfüllt? Das ist natürlich die entscheidende Frage! Ich versuchte, diesbezüglich mit meinen eigenen Vorstellungen sehr zurückhaltend zu sein. Die Antwort kam mir dann drei Jahre später, und zwar in dem Augenblick, als ich lernte, meine Aufgabe mit Liebe und Hingabe auszuführen und einen Raum ohne Vorurteil zu betreten. Ich nahm ihn einfach als meine Aufgabe an, und je schlimmer er sich zeigte, desto interessanter wurde meine Aufgabe. Ich empfand auch nie einen Ekel, selbst bei den schlimmsten Toiletten nicht. Niemals dachte ich: Du meine Güte, welch eine Schweinerei!, sondern einfach: Das ist jetzt deine Aufgabe.
Goetheanum 1992 bekam ich das Angebot, die Reinigung des Goetheanum in Dornach bei Basel zu übernehmen. Das Goetheanum ist ein internationales Kulturzentrum, mit Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Dieses Angebot war für mich eine große Ehre und ich empfand es als die Krönung meiner Aufgaben.Bereits 1989 hatte eine Mitarbeiterin meiner Firma die Reinigung der Sanitätsbereiche im Goetheanum übernommen. Dabei musste ich sie häufig vertreten. Es waren vierundsechzig Toiletten. Hier lernte ich, vor einer Toilette niederzuknien. Denn beim unentwegten Bücken, wieder Aufrichten, im Halbkreis rückwärts laufen, um mich erneut zu bücken, wurde mir einfach schwindelig. Auch war ich damals noch nicht so geschult und bemerkte bald, wie anstrengend das Bücken für meinen Rücken war. So also kniete ich mich vor die Toilette hin, um sie gründlich zu reinigen und wirklich in jeden Bereich einzudringen: ganz unten in der Schüssel, unter den Rändern, bei den Schrauben der Brille, hinunter zum Sockel der Schüssel oder bei den moderneren Toiletten auf der Unterseite der Schüssel bis dorthin, wo sie an der Wand befestigt ist. In dieser Position ändert sich die ganze Welt. Man nimmt eine Toilette völlig neu wahr, und zwar nicht nur mit den Sinnen! Die gesamte Gestik ändert sich, und man muss den Gegenstand auch ganz anders berühren. Am Ende der Arbeit, versuchte ich, mich ganz bewusst wieder aufzurichten. All das wurde mir zu einer besonderen Erfahrung. Eine sehr starke Wahrnehmung der eigenen Aufrichte fand statt, und zugleich änderte sich auch in der Atmosphäre der Toilette etwas. Diesen Vorgang wiederholte ich immer wieder, auch um festzustellen, ob ich mir das alles nur einbildete. Aber dieses Gefühl der Aufrichte und der Veränderung im Raum blieb bestehen.Ich sprach mit einer Freundin, die als Heilpädagogin noch bei Karl König in einer Camphill-Einrichtung[1] gelernt hatte, und sie bestätigte mir meine Erfahrung.
Aus okkulter Sicht wirkt eine bewusst durchgeführte Übung immer auch auf die Atmosphäre des Raumes, bis dahin, dass auch andere Menschen davon positiv berührt werden können. Vielleicht kann man diese Wirkung mit einer therapeutischen Arbeit vergleichen: Allein schon, wenn der Patient die später von ihm selbst auszuführenden Übungen beim Therapeuten anschaut, kann er deren heilende Wirkung erleben.Während solch einer Vertretungsarbeit im Goetheanum hatte ich ein prägendes Erlebnis. Ich träumte, ich würde von meinem inzwischen verstorbenen Lehrer gerufen. Er sagte mir das Folgende: Jetzt ist es an der Zeit, dir zu zeigen, wie wichtig diese Arbeit ist, die du tust. Er nahm mich mit, öffnete eine schwere Holztür und führte mich in ein Zimmer, das mir völlig fremd war. Es war ein sehr hoher Raum mit großen Möbeln und eindrucksvollen Bildern an farbigen Wänden. Wir blieben an der Schwelle stehen, und sein Blick ging durch den ganzen Raum. Er machte eine Geste der Begrüßung und fing dann mit sehr harmonischen, fließenden, aber auch sehr genauen Gesten an, einen Schreibtisch abzustauben. Gegenstände wurden vorsichtig in die Hand genommen und liebevoll mit einem sauberen Lappen abgewischt. Wenn du reinigst, sagte er, nimmst du nicht nur den Staub weg, sondern du schaffst ganz bewusst Raum für etwas Neues. Es gibt unsichtbare Wesen, die mit jedem Raum, jedem Ding, mit den Menschen und auch den Aktivitäten, die dort stattfinden sollen, verbunden sind. Aber es gibt helfende und hemmende Wesen. Du selbst weißt nicht, was der Raum braucht, aber es ist wichtig, dass du den Raum, den du geschaffen hast, den helfenden Wesen übergibst, ihn ihnen zur Verfügung stellst. Sie wissen genau, was der Raum, die Menschen oder die Aktivitäten als Unterstützung benötigen. Übergib es nicht einfach bloß den unsichtbaren Wesen, sondern übergib es nur den helfenden Wesen! Beim Verlassen des Raumes stellte er sich nochmals auf die Schwelle und schaute, ob alles gut gemacht und an seinem richtigen Platz sei, geradeso, wie wir es vorgefunden hatten.Am nächsten Morgen, während ich noch die Toiletten putzte, kam die damals für die Reinigung am Goetheanum zuständige Person zu mir. Sie bat mich um meine weitere Unterstützung, weil gerade viele Studenten, die im Putzteam arbeiteten, fehlten. Als ich die Arbeit an den Toiletten beendet hatte, meldete ich mich bei ihr, um zu erfahren, was als Nächstes zu tun sei. Wie groß war meine Überraschung, als ich in denselben Raum geführt wurde, wo ich in der vorherigen Nacht meine Unterweisung zum Raumschaffen und -pflegen erhalten hatte!
Seither betrete ich nie mehr einen Raum mit der Absicht, etwas darin zu ändern. Diese Art zu pflegen verlangt große Aufmerksamkeit für die Umgebung, in der die Menschen leben, lernen, arbeiten, schlafen. Es hat keinen Sinn, mit aller Putzgewalt sich selbst und seine Eigenheiten darüber stülpen zu wollen. Durch die Hingabe lernt man, dasjenige sanft zu verwandeln, an dem man arbeitet. Statt etwas verändern zu wollen, versuche ich Raum zu schaffen. Hierbei ist höchste Zurückhaltung gefordert, weil ich ja selbst nicht wissen kann, was der Raum benötigt. Braucht ein Klassenzimmer etwas Weiches, Harmonisches oder eher eine starke Formkraft? Die geistigen Wesen aber, die dem Raum, der Tätigkeit oder dem Anlass gut gesonnen sind und ihn unterstützend begleiten, sie wissen, was nötig ist. Was ich jedoch versuchen kann, ist, den wohlwollenden Wesen einen Freiraum zur Verfügung zu stellen. So arbeite ich immer mit dem Grundsatz: Dein Wille geschehe.
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[1] Camphill ist eine heilpädagogische Bewegung, die auf Grundlage der Anthroposophie begründet wurde. Die erste Camphill Community entstand 1939, durch den aus Wien emigrierten Kinderarzt Karl König, in Kirkton House bei Aberdeen; 1940 zog sie ins nahe gelegene Camphill Estate um. Heute existieren weltweit mehr als 100 Gemeinschaften in über 20 Ländern. In den dorfähnlichen Camphill-Gemeinschaften leben Menschen mit – häufig mehrfachen – schweren geistigen, seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen, zumeist gemeinsam mit den Familien ihrer Betreuer. Sie finden Beschäftigung in Betrieben mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft, in Küche und Bäckerei oder in kunstgewerblichen Werkstätten. Den Betreuten wird so ein ihren Fähigkeiten gemäßes, weitgehend selbstständiges Leben ermöglicht. Im Gegensatz zu einer im Schichtbetrieb in Heimen vollzogenen Pflege, entwickeln sich hier in etwa familiäre Verhältnisse. Der Tages-, Wochen- und Jahreslauf ist gegliedert, sodass auch in weitem Umfang hilfsbedürftige Menschen Orientierung finden. Dazu gehören gemeinsame Mahlzeiten, Andachten und jahreszeitliche Feste mit Musik und anderen künstlerischen Beiträgen. Auch schwerstbehinderten Kindern wird eine an der Waldorfpädagogik orientierte Schulbildung zuteil.