Vom Putzen und Pflegen
| Linda Thomas
Putzen und Pflegen ist ein sozial heilsamer Akt der Mut erfordert.
Eine der Hauptleistungen der Raumpflege ist es, eine Grundlage zu schaffen, damit unsere Kinder nicht nur physisch heranwachsen, sondern gedeihen können. Gerade in diesen schweren Zeiten könnte das gepflegte Zuhause, der Klassenraum, eine Zuflucht der Friede und Harmonie werden.
Das gewöhnliche Putzen kann durch liebevolle Hingabe zur Pflege werden. Seine positive, gesundende Wirkung wird unterschätzt. Die Pflege bietet ein weites Übungsfeld: Sie ermöglicht die Entwicklung des gesunden Menschenverstandes, auch Eigenschaften wie Rhythmus, Geduld, Achtsamkeit, Eigenverantwortung. Durch Pflege bringen wir Dinge zum Gedeihen. Geben wir einer Pflanze Wasser, wird sie wachsen – pflegen wir sie, wird sie gedeihen. Auch Kinder können wachsen oder gedeihen.
2019 reiste ich nach Taiwan. Dort ist es an allen Schulen üblich, dass das Schulhaus von Kindern geputzt wird. Mädchen und Buben nehmen mit Begeisterung diese Aufgabe für die ganze Schulgemeinschaft wahr. Es gehört eben zur Kultur der Schulen.
Bei uns droht dieses Kulturimpuls verloren zu gehen. Ordnung und Pflege bilden eine wichtige pädagogische und soziale Grundlage: für den Unterricht, die Kommunikation zwischen den Lehrern, Eltern und Schülern.
Putzkultur will gepflegt werden und verdient in der Erziehung einen Platz. Ein gepflegtes Umfeld wirkt positiv auf die Konzentration und die schulischen Leistungen der Kinder.
Die Übungsseite des Putzens und Pflegens basiert auf Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Bewusste Wahrnehmung heißt immer, sich mit einer Sache verbinden. Das wiederum entwickelt die Hingabefähigkeit. Hier steht die Sinnesschulung im Vordergrund. Äußere Wahrnehmung spielt eine wichtige Rolle bei der Qualität der Reinigung und will geübt werden: Was wir nicht wahrnehmen, putzen wir nicht.
Die Selbstwahrnehmung geschieht innen und außen.
Die äußere Seite: Wie ist meine Gestik? Kämpferisch oder harmonisch, rhythmisch oder gehetzt? Die Handgriffe: Führe ich eine Sache bis zu Ende? D.h., versorge ich das, was ich nicht mehr brauche, z.B. Lappen, Besen? Schließe ich Schubladen und Schranktüren ganz oder bleiben sie einen Spalt offen? Lass ich Sachen liegen und benutze provisorische "Parkplätze"? So fängt die Unordnung an.
Die innere Seite: Was ist meine Einstellung? Bin ich unzufrieden? Bin ich bei der Sache oder in Gedanken weit weg?
Durch die Wahrnehmung lernt man, sich neu mit seinem Umfeld zu verbinden; durch die physische Aktivität wird Bewegungsträgheit abgebaut. Die Schüler erleben die Bedeutung von Werterhaltung durch die Pflege des Schulgebäudes und lernen ökologische und nachhaltige Werte im Reinigungsbereich kennen.
Ein junger Mensch, der gelernt hat, das zu verantworten, was er tut, entwickelt einen starken Willen. Da jede Bewegung beim Putzen bewusst geführt und mit Sinn erfüllt ist, lernen sie wahrzunehmen, wie Schmutz und Unordnung entstehen. Diese Wahrnehmung unterstützt die Willensbildung, und wird weiter durch die rhythmischen Bewegungen gefördert.
Rhythmus in der Arbeit und in Abläufen kann der Erschöpfung und Überforderung vorbeugen, weil in der rhythmisch, pflegenden Geste Heilungspotential liegt.
Die Liebeskräfte strömen von unseren Herzen direkt durch die Arme in die Hände und verleihen uns die Verwandlungskräfte, die wir heute so dringend benötigen.
Spezielle, rhythmische Akzente könnten gesetzt werden, indem wir vor den Jahresfesten z.B. spezielle Reinigungsaktionen durchführen. Die Kinder könnten sich kreativ einbringen mit Überlegungen, was das Haus, die Schule, gerade braucht, damit wir die Feste angemessen gestalten können.
Gemeinsames Arbeiten stärkt soziale Fähigkeiten. Man trifft Absprachen, geht auf individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten ein. Durch die eigene Erfahrung kann eine neue Einstellung gegenüber der Reinigungstätigkeit und den reinigenden Menschen entstehen.
Die bewusste Pflege ist der Beginn einer Beziehung. Diese Beziehung vermindert Gewaltbereitschaft, weil der gesunde Mensch meistens nicht dasjenige zerstören will, zu dem er ein positives Verhältnis aufgebaut hat. Wenn z.B. Vandalismus in den Toiletten auftreten sollte, hilft eine künstlerische Neugestaltung durch die Schüler, das Problem zu lösen.
Das Gegenteil von Pflege ist Vernachlässigung. Sie ist etwas Schleichendes, fängt in den Ecken an, die wir nicht durchdringen. Sie breitet sich aus, wenn beschädigte Sachen nicht repariert, Schmutz und Abfall nicht sofort entfernt, Projekte nicht bis zu Ende geführt werden. Vernachlässigung ist eine passive Form von Vandalismus und steigert die Gewalt- und Zerstörungsbereitschaft.
In dem Buch Gewalt an Schulen von Gisela und Axel Preuschoff[1] heißt es zu diesem Themenkomplex:
Gewaltbereitschaft und Aggressionen werden abgebaut, wenn sich Lehrer/-innen und Schüler/-innen gleichermaßen für ihre Schule verantwortlich fühlen, weil sie mitbestimmen und mitgestalten dürfen. Frustration und Misserfolgserlebnisse aller Art müssen vermieden werden. Die Schule darf nicht zu einer Wissensfabrik verkommen, sondern muss ihren Erziehungsauftrag ernst nehmen.
Wenn es ums Putzen geht, klagen Menschen oft, dass sie keine Zeit haben. Natürlich "haben" wir keine Zeit, wir nehmen uns Zeit – für das, was wir wirklich wollen. Wir setzen Prioritäten.
Pflege hat auch mit Sozialität zu tun und spiegelt die Ordnung in Beziehungsverhältnissen.
Ich habe Schulen und Klassenzimmer erlebt, wo ich dachte, kein Mensch würde doch freiwillig in so einem Raum lehren oder lernen. Bei einem bestimmten Fall, tauchte als wichtigste Frage in mir auf: Was fehlt dir, Lehrkraft, dass es so weit kommen musste?
Hier war der Grund tiefliegende Beziehungsprobleme im Kollegium, Unfähigkeit, konstruktiv zu Kommunizieren. Das führte bei der Lehrkraft zu totaler Erschöpfung, wachsende Gleichgültigkeit, an Verzweiflung grenzend.
Es wurde nach Lösungen gesucht und endlich half das Ordnen der Beziehungsverhältnisse heilsam auf die ganze Schulgemeinschaft zu wirken.
Es braucht Mut, unsere Beziehungen genau anzuschauen, über Schwieriges zu sprechen, Differenzen zu klären. Ohne Kommunikation gibt es keine Beziehung, keine Entscheidungen. Das konnte zu einer Schwäche des Gemeinschafts-Willens führen. Eine klare Entscheidung gibt immer Kraft, weil sie Ich-stärkend ist.
Die äußere Ordnung und Unordnung sind leicht erkennbar: Im Raum, im Straßenverkehr, auf meinem Schreibtisch. Es gibt auch Ordnung und Unordnung unserer Gefühle und Gedanken. Bei der Ordnung ist Wesentliches von Unwesentlichen getrennt.
Ordnung unterstützt die Effizienz, soll aber dienen, nicht herrschen, sonst gibt es ein Zuviel. Dann putzen und desinfizieren wir z.B. im Übermaß, aus lauter Angst vor Krankheit und Ansteckung. Zu viel Ordnung ist oft ein Zeichen für Kontrollverlustängste.
Das gesunde Selbstvertrauen in die eigenen Möglichkeiten und das damit verbundene Vertrauen in die geistige Welt, stärkt unsere Lebenskräfte. Eine Schwäche, eine Erkrankung tritt oft auf, wenn im Beziehungsleben eine Unordnung entsteht und gerade darum, weil wir seelisch-geistige Wesen sind.
Die Epidemie hat deutlich gezeigt, wie schwer das gegenseitige Verständnis sein kann, zwischen Partnern, Geschwistern, Eltern und Kindern, Kollegen und Kolleginnen.
Wie oft habe ich in dieser Zeit eine tiefe Unzufriedenheit bei Menschen erlebt.
Mein Vater sagte: Die Unzufriedenheit öffnet die Türe für alle Dämonen. Gegen die Unzufriedenheit gibt es nur ein Mittel: Die Dankbarkeit. Dankbarkeit ist immer Verwandlung.
Die notwendigen Aufräum- und Ordnungsarbeiten fordern von uns eine bestimmte Treue, eine Durchhaltekraft. Ich nehme Beziehung zu der Sache auf und werde somit eigen-bestimmt, nicht fremdbestimmt. Ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, kann ich keine Beziehung zur Sache aufnehmen. Das führt zu Unverbindlichkeit. Unverbindlichkeit erzeugt immer Unordnung.
Ein lebendiges, echtes Interesse für das zu entwickeln, was uns umgibt, kann der Trägheit entgegenwirken. Die innere Bewegung, die durch das Interesse an den Dingen entsteht, kann uns dazu bewegen, tatkräftig mit der Arbeit zu beginnen.
Dazu passen folgende Gedanken von Rudolf Steiner:
Was dem Menschen eine Beziehung zu den Dingen rings herum verschafft, ist dasjenige, was wir nennen können das Interesse an den Dingen. Mit diesem Wort "Interesse" ist etwas in moralischem Sinne ungeheuer Bedeutungsvolles ausgesprochen. (…) Unsere moralischen Impulse werden in der Tat durch nichts besser geleitet, als wenn wir ein richtiges Interesse nehmen an den Dingen und Wesenheiten. Das wir unser Interesse erweitern, dass wir die Möglichkeit finden, uns verständnisvoll hineinzuversetzen in die Dinge und Wesen, das ruft unsere Kräfte im Innern auf, auch den Menschen gegenüber.[2]
Die bewusste Tätigkeit wirkt wie ein Jungbrunnen und gibt den alltäglichsten Handlungen die Qualität eines Neubeginns. Die Reinigungsarbeit kann zu einer kreativen Aufgabe werden, in dem Augenblick nämlich, wenn wir beispielsweise einer bislang eher mechanisch ausgeführten Geste, einen Schimmer von Bewusstsein schenken.Ich erschaffe mir ein neues Objekt, indem ich es liebevoll pflege. Meine Seele begleitet diesen Vorgang, die Berührung schenkt Wärme. Etwas Menschliches geht auf den gepflegten Gegenstand über und in ihn hinein und wirkt von da positiv und heilsam auf die Menschen zurück. Das ist Geistesgegenwart und bedeutet ein Lernen für das gesamte Leben.
Wenn wir mit dieser Einstellung arbeiten, der Tätigkeit ganz hingegeben, sei es beim Wandtafelputzen oder Apfelschälen, entsteht eine Hülle um uns, die pädagogisch und heilend wirkt.
Dazu braucht es Mut und Demut. Dann dürfen wir darauf vertrauen, dass unsere Taten eine ganze Gemeinschaft zugutekommen können.
Zur Autorin: Linda Thomas gründete 1988 ein "ökologisches Reinigungsinstitut" in Arlesheim und leitete das Reinigungsteam am Goetheanum in Dornach. 2004 initiierte sie die 1. Internationale Fachtagung zur Putzkultur am Goetheanum mit zwei weiteren Tagungen in 2006 und 2008. 2009 folgte die Fachtagung "Bewegung im Facility Management" sowie eine Tagung zum Messie-Syndrom. Nach der Publikation des Buches: Putzen?! Von der lästigen Notwendigkeit zu einer Liebeserklärung an die Gegenwart (2011), intensivierte sie ihre Beratungs-, Vortrags- und Seminartätigkeit im In- und Ausland. 2012 übernahm sie die Leitung der Hauswirtschaft der Lukas Klinik, Arlesheim, 2014 die Leitung Allgemeine Dienste der neuen Klinik Arlesheim als Mitglied der Klinikleitung.
[1] Preuschoff, Gisela und Axel: Gewalt an Schulen – und was dagegen zu tun ist, Köln 1997.
[2] Steiner, Rudolf: Christus und die Menschliche Seele (GA 155), Dornach 1994, Vortrag vom 30. Mai 1912.